Mangel im Überfluss – behauptet der Spiegel:
Groß ist die Klage über fehlende Ärzte – dabei gibt es immer mehr Mediziner. Sie sind nur nicht da, wo man sie braucht. Schuld daran, dass ganze Regionen verwaisen, sind die Funktionäre.
Wer wissen will, wie mies es in Deutschland den Ärzten geht, muss sich beim Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erkundigen, Dr. med. Andreas Köhler. Fragen nach dem Befinden beantwortet der Spitzenfunktionär verlässlich mit „sehr, sehr schlecht“. Das Ansehen der Heilkunst schwinde, der Stress nehme zu. Für immer mehr Arbeit gebe es immer weniger Geld.
Aktuell hat die Lage offenbar einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wo immer Köhler dieser Tage auftritt, macht sich Untergangsstimmung breit. Es fallen Schockvokabeln wie „Rationierung“ und „Versorgungsnotstand“. Zigtausende Mediziner wollten dem System demnächst den Rücken kehren, es fehle Nachwuchs. „Es zeichnet sich ein dramatischer Ärztemangel ab“, sagt Köhler und verlangt, es müsse schleunigst mehr Geld ins System gepumpt werden. Ihm schwebt da eine Summe von 18 Milliarden Euro vor.
Bemerkenswerterweise ertönt Köhlers Wehgeschrei umso lauter, je weniger es durch harte Zahlen gestützt werden kann. Während der Gesundheitsfunktionär den Eindruck erweckt, die Ärzte seien eine akut vom Aussterben bedrohte Spezies, beobachten die Statistiker seiner KBV, Dezernat 4, Abteilung Bundesarztregister, den genau entgegengesetzten Trend. Sie haben festgestellt, dass die Zahl der Mediziner in Deutschland nicht etwa sinkt, sondern steigt.
Zu Beginn des vergangenen Jahres gab es demnach 136.105 ambulant tätige Ärzte – ein neuer Nachkriegsrekord. Um 16 Prozent ist die Medizinerschar seit Mitte der neunziger Jahre angewachsen – und damals war in öffentlichen Debatten nicht von „Ärztemangel“ die Rede gewesen, sondern von „Ärzteschwemme“.
Eigentlich müssten sich Kassenpatienten daher besser umsorgt fühlen als je zuvor. In kaum einem anderen Land der Europäischen Union gab es zuletzt – gemessen an der Einwohnerzahl – mehr Fachärzte als hierzulande. Bei den Hausärzten liegt Deutschland vor Holland und den skandinavischen Ländern. „Der internationale Vergleich zeigt, dass die Versorgungsdichte in Deutschland hoch ist“, heißt es auch in einer Aufstellung des Bundesgesundheitsministeriums.
Das ist allerdings nicht überall so. In strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands warten Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse oft monatelang auf einen Termin beim Facharzt. Auch in den alten Bundesländern häufen sich Beschwerden über volle Wartezimmer. Kaum noch vorstellbar, dass einige Ärzte früher sogar Hausbesuche machten.
Es gilt, einen besonders misslichen Fall von Fehlsteuerung zu bestaunen: Ärztemangel und Ärzteüberfluss treten im deutschen Gesundheitswesen neuerdings gleichzeitig auf, und zwar mit allen damit verbundenen Nachteilen. Einerseits kommen bundesweit immer mehr Mediziner auf immer weniger Kassenpatienten; das treibt die Kosten und Kassenbeiträge hoch. Andererseits werden ganze Landstriche zu praxisfreien Zonen.
Schuld an der Misere sind zunächst die Ärzte selbst. Vom heiteren Leben in Metropolen wie Berlin, Hamburg, München und dem Rhein-Ruhr-Gebiet sowie von den Vororten mit vielen Gutverdienern fühlen sie sich magisch angezogen. Die Hartz-IV-Hochburgen in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern hingegen sind schon wegen des sehr geringen Aufkommens an Privatpatienten aus Medizinersicht zu meiden.
Eigentlich müssten an dieser Stelle die Kassenärztlichen Vereinigungen eingreifen. Es handelt sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts; ihnen obliegt die lückenlose Versorgung mit niedergelassenen Haus- und Fachärzten. Für die von KBV-Chef Köhler beklagten Versorgungslücken ist deshalb vor allem einer verantwortlich: Köhler selbst.
Doch der Funktionär hat Verständnis für die Ärzte. Im kleinen Kreis redet er gern darüber, wie wichtig die „Work-Life-Balance“ sei. Wo es keine Oper, kein vernünftiges Restaurant und keine Privatschulen gibt, dürfte sich der Spitzenfunktionär – sein Jahresgrundgehalt beträgt 260.000 Euro – ja auch kaum wohlfühlen.
Hinzu kommt ein strukturelles Problem. Eigentlich müssten die Kassenarztvereinigungen für eine gleichmäßige Verteilung der Honorare sorgen. Doch das Sagen haben die Standesvertreter aus den überversorgten Regionen. Sie verhindern Reformen, die zu ihren Lasten gehen.
Und so haben die Patienten, die in benachteiligten Gegenden zu Hause sind, leider erst mal Pech gehabt. Obwohl Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Kassenarztvereinigungen seit Monaten ermahnt, die Versorgungslücken zu schließen, schreiten die Funktionäre nur sehr langsam voran.
Etwa im sachsen-anhaltischen Städtchen Aschersleben. Das Städtchen mit knapp 26.000 Einwohnern, malerisch gelegen am Fuße des Harzes, ist seit neuestem um eine Attraktion reicher. Es gibt wieder einen Augenarzt im Ort. Der alte Doktor hatte vor zwei Jahren zugemacht. Seither mussten die Patienten ins 50 Kilometer entfernte Magdeburg oder 70 Kilometer nach Halle fahren.
Entsprechend freudig fiel nun der Empfang für den übergangsweise aus Hessen angereisten Dr. med. Detlev Hoffmann, 64, aus. Als der Mediziner an einem Montag Anfang Februar erstmals wieder die Praxis in der Otto-Arndt-Straße aufsperrte, warteten fast 300 Patienten in Zweierreihen vor der Tür. Man habe wieder „Schlange gestanden wie einst, wenn es Bananen gab“, berichtete das „Neue Deutschland“.
Die Freude wird nicht von Dauer sein. Bis in den Herbst sind viele Termine beim neuen Augenarzt schon weg, und danach sieht es auch nicht viel besser aus. Dr. Hoffmann hat angedeutet, dass er schon wegen seines fortgeschrittenen Alters keine Dauerlösung sei.
Wie viel besser haben es da doch die Menschen im bayerischen Starnberg. Die Einwohnerzahl ist mit der von Aschersleben durchaus vergleichbar. Doch während es im Harz jahrelang keinen einzigen Augenarzt gab, tummeln sich in den Starnberger Praxen sowie einer Spezialklinik gleich ein halbes Dutzend Augenheilkundige.
Bizarrerweise sind deren Verdienstmöglichkeiten trotz Konkurrenz besser als die des Kollegen mit Monopolstellung im Harz. Für dieselbe Verrichtung am Kassenpatienten gibt es in Starnberg, grob geschätzt, etwa 50 Prozent mehr Honorar. Noch üppigere Sätze lassen sich mit den zahlreich vorhandenen Privatversicherten abrechnen. Und so bleibt den Ärzten genug Zeit, das Leben zu genießen. Mittwochnachmittag sind die Golf-, Reit- und Tennisplätze in der Region immer besonders voll. Landärzte in Ostdeutschland hingegen arbeiten in der Regel an allen Wochentagen durch.
Einen guten Überblick darüber, wo sich Arztsein besonders lohnt und wo nicht, liefert jede Woche das „Deutsche Ärzteblatt“ im Kleinanzeigenteil, Rubrik „Praxisabgabe“. Bei der Übernahme einer florierenden Innenstadtpraxis sind allein für die Patientenkartei schnell mehr als hunderttausend Euro fällig. Im Osten hingegen gibt es freie Kassenarztsitze umsonst; auch die Praxisausstattung wird oft gratis abgegeben. Für die Übernahme einer Hausarztstelle im sachsen-anhaltischen Sülzetal wird per Inserat in der aktuellen Ausgabe sogar eine Mindestumsatzgarantie in Aussicht gestellt.
Experten sind daher sicher, dass sich die Versorgungslücken nur durch eine gründliche Reform der Honorarverteilung schließen lassen. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach schlägt vor, eine Art Bonus-Malus-System einzuführen. Die Ärzte in Starnberg, Versorgungsgrad etwa 150 Prozent, müssten demnach auf ein Drittel ihrer Honorare verzichten. Im Gegenzug seien die Arzteinkünfte in unterversorgten Gegenden entsprechend aufzupolstern. Insgesamt gehe es dabei um ein Nullsummenspiel, so Lauterbach.
Tatsächlich hätten die Kassenarztvereinigungen schon heute die Möglichkeit, Medizinern in Mangelregionen mehr Geld zu geben. Doch weil dies umgekehrt bedeuten würde, dass Ärzte in überversorgten Regionen mit Abschlägen bestraft werden, handelt es sich bislang um eher geringere Beträge.
Negativ betroffen wären schließlich auch viele Kassenarztfunktionäre selbst. Schon aus Gründen der Work-Life-Balance sind die meisten von ihnen in einer überversorgten Region zu Hause.